Proteste gegen Erdogan:Türken rufen nach voller Meinungsfreiheit

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Der Protest vereint sogar Fußballfans von Besiktas (schwarz-weiß), Galatasaray (gelb-rot) und Fenerbahce (gelb-blau) (Foto: MURAD SEZER/Reuters)

Die Polizei selbst beklagt den tagelangen Einsatz gegen die Demonstranten. Die trotzen in Istanbul der harten Linie von Ministerpräsident Erdogan - und formulieren einen Katalog von Forderungen.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Das Machtwort des Premiers ist verpufft. Recep Tayyip Erdogans Aufforderung an die regierungskritischen Demonstranten, ihre Aktionen in der Türkei sofort einzustellen, ist wirkungslos geblieben. Am Samstagabend zogen Tausende Fans der drei größten rivalisierenden Istanbuler Fußballklubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray gemeinsam auf den zentralen Taksim-Platz und feierten fast die ganze Nacht.

Immer wieder wurde der Ruf "Tayyip Rücktritt" laut. Feuerwerk erhellte den Platz, von dem sich die Polizei vor einer Woche zurückgezogen hat, nachdem sie zuvor mit Gewalt vorgegangen war. Auch am Sonntag sammelten sich Tausende zum Protest auf dem Platz, wobei es wie in den vergangenen Tagen friedlich blieb.

Die "Taksim Solidarität" - eine Plattform der Regierungsgegner - veröffentlichte am Wochenende eine Erklärung, in der sie ihre Forderungen auf wenige Punkte konzentrierte: keine Bebauung des Gezi-Parks am Taksim, kein Abriss des Atatürk-Kulturzentrums dort und die Entlassung der für die extreme Polizeigewalt verantwortlichen Gouverneure und Polizeichefs; Verbot von Tränengas, keine juristische Verfolgung von Demonstranten, Abbau von Hindernissen für die Meinungsfreiheit. In ihr Gedenken an die drei Toten während der Proteste schloss die Gruppe auch den 27-jährigen Polizisten ein, der bei der Verfolgung von Demonstranten in Adana durch einen Sturz so schwer verletzt wurde, dass er in einem Krankenhaus starb.

Offenbar belastet der tagelange Einsatz auch die Polizei. Ihre Gewerkschaft Emniyet-Sen beklagt eine Überlastung der Beamten. Diese seien zu 120 Stunden langen Dauereinsätzen auf den Straßen gezwungen worden. Sechs Polizisten hätten Selbstmord begangen, zitierten türkische Medien Faruk Sezer, den Vorsitzenden der Gewerkschaft. Sie war erst 2012 gegen den Widerstand der Polizeiführung gegründet worden und hat nach eigenen Angaben mehr als 7000 Mitglieder. Die Gewalt gegen die Demonstranten habe ihre Ursache auch in Gewalt, die Polizisten erfahren würden, sagte Sezer. Die Organisation sammle Material, um Gerichtsverfahren gegen Dienstherrn anzustoßen.

"Das sind Leute, die die demokratischen Standards anheben wollen"

Istanbuls Gouverneur Avni Mutlu meldete sich am Sonntag mit einem freundlichen Morgengruß per Twitter bei den Taksim-Demonstranten. Zuvor hatte er per Twitter Gerüchte zurückgewiesen, wonach sich die Polizei auf einen Einsatz im Park vorbereite. Auch Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbas, der Erdogans Regierungspartei AKP angehört, zeigte teilweises Entgegenkommen. Topbas versicherte am Samstag: "Wir denken definitiv nicht über den Bau eines Einkaufszentrums nach, auch nicht über den eines Hotels oder Wohnblocks."

An dem Wiederaufbau der osmanischen Kaserne anstelle des Parks hielt er jedoch fest, nannte als Nutzung nun aber ein "Stadtmuseum". Der Plan für die Kaserne sei ein AKP-Wahlversprechen gewesen. Die endgültige Projektfestlegung könne jedoch "im Dialog" erfolgen und auch "mehr Bäume" umfassen.

Inzwischen sorgen sich Stadt und Demonstranten wegen der Hygiene im besetzten Park. Ein Unternehmer hat zwar einige Bautoiletten gespendet, die reichen aber nicht. Die Wirtschaft reagiert gespalten auf den Protest. Geschäftsinhaber klagen über Einbußen, weil viele Istanbuler sich nicht mehr fürs Einkaufen, sondern nur fürs Demonstrieren interessieren.

Der größte Industrieverband Tüsiad zeigte Verständnis. "Das sind Leute, die die demokratischen Standards anheben wollen", zitierte Hürriyet Tüsiad-Präsident Muharrem Yilmaz. Dagegen warnten fünf regierungsnahe Verbände, "marginale Gruppen" versuchten die Proteste "auszubeuten".

Der Politikwissenschaftler Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung verglich die Frustration vieler junger Türken mit der "Situation in Deutschland nach 16 Jahren Helmut Kohl". Diese Generation wisse nicht, wie es in ihrem Land zuging, "als es in den 90er Jahren 120 Prozent Inflation gab", sagte Karakas der Süddeutschen Zeitung. Die Türkei müsse den "neuartigen Protest für einen Demokratisierungsschub nutzen".

© SZ vom 10.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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